09 Aug In nomine Diffusi
Wer durch das Landesinnere Italiens fährt, begegnet oft kleinen, meist mittelalterlichen Dörfern, deren historische Kerne noch intakt sind. Nicht selten wirken diese Orte etwas verlassen: Auf den Plätzen und in den Gassen sind vor allem ältere Menschen und Katzen zu sehen. Diese entrückte, etwas dekadente Schönheit fasziniert die Besucher, weniger aber die Einheimischen, die meist lieber in größere Städte oder in Neubaugebiete ziehen. Eine neue Form des Tourismus wertet nun unbewohnte und vom Verfall bedrohte alte Gebäude auf: vom ehemaligen Patrizierpalast bis zur verlassenen Scheune. In ‚verstreuten Hotels‘ sind die Hotelzimmer im historischen Dorfkern verteilt. Traditionell restauriert und minimalistisch eingerichtet bieten sie dennoch hohen Komfort und einen sehr persönlichen Service. Wer sie bewohnt, fühlt sich als Teil der Dorfgemeinschaft und erlebt den authentischen Charme einer Gastfreundschaft, die bis in das kleinste Detail die lokale Alltagskultur würdigt.
von Elisabetta Gaddoni
Die Idee, unbewohnte Häuser zu renovieren und sie touristisch zu nutzen, entstand Anfang der 80er Jahre in der Region Friaul. Dort hatte 1976 ein Erdbeben etliche Dörfer zerstört. Viele der Einwohner, die in umliegende Orte umgesiedelt worden waren, wollten nicht mehr zurückziehen, obwohl ihre Häuser inzwischen wieder aufgebaut worden waren. Es wurde nach neuen Wegen gesucht, um diese Dörfer wieder zu beleben und den Tourismus zu lancieren. Auf den Bau neuer Hotels wollte man jedoch verzichten. Die Zimmer dieser verlassenen Häuser, einmal restauriert und traditionell eingerichtet, sollten selbst Teil eines Hotels werden. Im historischen Dorfkern verstreut, sollten sie aber nicht zu weit von der Rezeption und vom Restaurant gelegen sein. Ein derartiges ‚horizontales‘ Hotel unterscheidet sich in seinem Konzept erheblich vom gängigen Hoteltypus, dessen vertikale Struktur eher an die Wohnhäuser der Großstädte erinnert. Anstatt nur mit Touristen zu tun zu haben, wohnen die Besucher der “Alberghi Diffusi“ Tür an Tür mit den Einheimischen und teilen mit ihnen den Alltag und den Lebensstil, zumindest für die Zeit ihres Aufenthalts. Auch der Umgang mit den Gästen ist viel herzlicher und direkter: Das Personal stammt meist aus der Gegend und versteht es am besten, den Besuchern die Kultur, die Besonderheiten und den Geist des Ortes zu vermitteln.
Jahrzehnte hat es gedauert, bis die ersten Strukturen dieser Art eröffnen konnten, auch wegen der Langsamkeit der italienischen Bürokratie. Mittlerweile gibt es in ganz Italien um die 80 „Alberghi Diffusi“. Von der Berghütte bis zum antiken Palast, es sind alle erdenklichen Altbauarten vertreten. Nicht alle erfüllen aber die Voraussetzungen, die die „Associazione Nazionale Alberghi Diffusi“ (ANAD) festgelegt hat. Ein „Albergo Diffuso“ unterscheidet sich wesentlich vom „Agriturismo“ (Urlaub auf dem Bauernhof), denn es setzt einen historischen Ortskern voraus, mit einem funktionierenden Alltagsleben, das den Austausch zwischen Einwohnern und Gästen möglich macht. Jene verlassenen Dörfer, die von Reiseveranstaltern im Ganzen aufgekauft werden, um Luxusressorts daraus zu machen, zählen ebenso nicht dazu. Die Formel der „Alberghi Diffusi“, die 2010 auf der Tourismusbörse in London ausgezeichnet wurde, setzt vor allem auf die besondere Eignung der kleinen Ortschaften zur Gastfreundschaft: auf einen warmherzigen, kommunikativen Umgang, die den Besucher miteinbezieht.
Santo Stefano di Sessanio liegt auf einer Höhe von 1.250 m im Nationalpark Gran Sasso, in der Region Abruzzen. Der mittelalterliche ‚Borgo‘ gilt mit seinen engen Gassen und alten Steinhäusern als eines der schönsten Dörfer Italiens. Noch vor einem Jahrzehnt stand der Ort dennoch kurz vor der Entvölkerung. Die meisten Menschen waren schon Ende der 50er Jahre in die Industriezentren Norditaliens oder ins Ausland gezogen, um Arbeit zu suchen. Gerade dieser Umstand hat die Dorfarchitektur gerettet: Da es keine Nachfrage an Wohnraum gab, sind Santo Stefano jene hässliche Neubauten und Siedlungen erspart geblieben, denen man in Italien fast immer begegnet, meist außerhalb der historischen Ortskerne. Die intakte Architektur und die Harmonie mit der umgebenden Landschaft beeindruckte Daniele Kihlgren tief, als er Ende der 90er Jahre mit dem Motorrad durch die Abruzzen fuhr und zufällig in Santo Stefano landete. Der Erbe einer Industriellenfamilie aus Mailand entschied sich, ein Viertel der Gebäude im Zentrum zu kaufen und daraus ein „Albergo Diffuso“ zu machen. Fünf Millionen Euro hat Kihlgren in dieses Unternehmen investiert. Dem studierten Philosophen, der schwedische Vorfahren hat, ging es weniger ums Geschäft als um die Erhaltung des archaischen Dorfcharakters. „Ich will das Landleben nicht verklären“ sagt er, „aber ich denke, dass das historische Gedächtnis zu faszinierend ist, um es unter Beton zu begraben“. Ausgerechnet er, der Erbe eines Zementimperiums, konnte die Lokalverwaltung dazu bewegen, Neubauten zu verbieten. Die Häuser, die er betonfrei hat restaurieren lassen, nur mit alten Materialen aus der Region wie Stein, Holz und Lehm, haben kaum unter dem Erdbeben von 2009 gelitten. Anders der Medici-Turm aus dem 12. Jahrhundert, der seit je Wahrzeichen des Ortes war und vor 50 Jahren mit dem Einsatz von Beton ‚verstärkt‘ wurde: Er ist eingestürzt.
Der bescheidene Lebensstil der Hirten und Bauern, die Jahrhunderte lang den Alltag im Dorf geprägt hatte, sollte auch bei der Restaurierung der Zimmer sichtbar bleiben. So sind verrußte Wände und Decken so belassen worden, die damalige Raumaufteilung bewahrt, so wie auch die Kamine und Utensilien wie Haken und Eisenringe, an denen früher Geräte und Wurstwaren hingen. Mit der Hilfe von Ethnologen hat Kihlgren die Traditionen, das Handwerk und die Küche von früher recherchieren lassen, um sie in seinem ‚Albergo‘ wieder aufleben zu lassen. Die meisten Einrichtungsgegenstände sind originalgetreu oder aus altem Holz nachgebaut worden. Die Matratzen werden so wie früher aus Wolle gemacht; Die Leinenbettwäsche und – handtücher stammen aus alten Aussteuerbeständen. Die Bettdecken webt heute eine Werkstatt im Dorf nach einem traditionellen Muster, das jahrhundertelang nur in Santo Stefano zu finden war. Nur bei dem, was früher nicht vorhanden war, – wie bei den Badezimmern und der Beleuchtung -, hat sich Kihlgren einen Stilbruch erlaubt: Die Sanitäreinrichtungen von Philippe Starck und die französische Designerglaslampen muten zwar modern an, passen dennoch mit ihren schlichten Linien sehr gut zur spartanischen Atmosphäre der Räume. Fußbodenheizung und W-LAN sieht man nicht, sie gehören aber ebenfalls zur Standardausstattung der Zimmer.
Der Erfolg des Hotel „Sextantio“ hat entscheidend zur Wiederbelebung von Santo Stefano beigetragen. Vergessenes Handwerk und die Produktion traditioneller Lebensmittel und Spezialitäten blühen wieder auf, angeregt durch die Nachfrage des Hotels und der Touristen. Auch im Hotel selbst arbeiten nur Menschen aus der Gegend. Viele Einwohner haben Bed&Breakfast, Kunsthandwerkläden und Restaurants eröffnet. Sogar einige der Ausgewanderten sind zurückgekommen. Dieser nachhaltige, ganzjährige Tourismus bietet jungen Menschen eine neue Perspektive. Auch in anderen Dörfern der Region, bei denen der Tourismus nach dem Erdbeben stark zurückgegangen war, haben ähnliche Strukturen dazu beigetragen, wieder Besucher zu locken. So zum Beispiel in Rovere, einem mittelalterlichen ‚Borgo‘, der noch höher gelegen ist, bei 1.412 m, in der Nähe von mehreren Ski-Gebieten. Dort hat das Albergo Diffuso „Robur Marsorum“ viele andere Aktivitäten angekurbelt.
„In Italien gibt es über 2.000 verlassene Borghi“, beteuert Kihlgren. „15.000 sind zu 90% entvölkert. Ihre Geschichte und ihre Kultur zu entdecken und aufzuwerten, birgt auch ein ökonomisches Potenzial: In Santo Stefano gab es früher nur einen Ort, um zu übernachten. Nun sind es 15 geworden, ohne ein einziges neues Gebäude zu bauen“.
Daniele Kihlgren ist mit seinen Plänen schon weiter. Einige der Wohnungen, die Teil des Hotels sind, verkauft er mittlerweile an Private. Diese vermieten ihrerseits die Zimmer an das Hotel Sextantio, wenn sie selbst nicht da sind. Der 45jährige hat neulich in den Regionen Abruzzen und Molise neun weitere Dörfer oder Teile davon gekauft; Er sucht allerdings Mitstreiter, um die Restaurierung zu finanzieren. In den berühmten „Sassi di Matera“, der zum Unesco-Weltkulturerbe zählende Höhlensiedlung im Zentrum der süditalienischen Stadt, in der noch bis in die 50er Jahre Hirten und Bauern wohnten, hat er leerstehende Höhlen restauriert. Auch hier ist Kihlgren eine atemberaubende Symbiose von archaischem Ambiente und minimalistischem, puristischem Design gelungen. In den 18 Zimmern und Suiten, denen die Raumhöhe beinahe die Akustik einer Kirche verleiht, harmonieren Designer-Badewannen mit antiken Waschbecken aus umfunktionierten Futtertrögen. Das Gefühl von absolutem Luxus, das diese Räume ausstrahlen, entsteht durch Reduktion, durch Verzicht auf Überflüssiges. Auf das nächste Projekt, das verschiedene ‚Borghi‘ im Nora-Tal miteinbezieht und das vom britischen Stararchitekten David Chipperfield betreut werden soll, kann man zu Recht gespannt sein.
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