27 Jan Ewige Stadt des Ostens
Viele Legenden und Mythen ranken sich um die Stadt, die sich, wie auch ihre Beinamensschwester, über sieben Hügel erstreckt. Ihren Beinamen die „ewige Stadt Osteuropas“ oder als „Mutter aller russischen Städte“ verdankt sie ihrer langen Geschichte. Kiew, malerisch am Flusses Dnjepr gelegen, war die Gründerstadt der Kiewer Rus im 9. Jahrhundert. Hier steht seit 1017 die älteste ostslawische Kathedrale, die Sophienkathedrale. Aus einer Million Steinen ist ihr Mosaik zusammengesetzt und kein einziger fehlt. Und wie ein Mosaik voller Widersprüche und Fragmente präsentiert sich die ukrainische Hauptstadt auch heute.
Dass dem steinernen Bild kein Bauteil fehlt ist ungewöhnlich in einer Stadt, in der die Spuren sozialistischer Regierung und Misswirtschaft doch immer noch überall zu sehen sind. Dem gegenüber steht ein unverkennbarer Bauboom. Gerade im grünen Norden baut sich die Kiewer Oberklasse eine Villengegend aus, die an Luxus und Prunk ihresgleichen sucht.
Das Stadtbild an sich machen heute vor allem aber die zahlreichen Kirchen aus. Mit dem Ende der Sowjetunion kam auch eine neue Religiosität auf und eine Reihe von Kirchen, die Stalin hatte abreißen lassen, wurden mit dem Geld der Wende-Oligarchen wieder aufgebaut. So 1999 auch das berühmte Michaelskloster. Die goldenen Kuppeln der Kirchen machen heute nicht nur die Silhouette der Stadt aus, ihr Glanz steht sinnbildlich gegen das Grau der schier endlosen Reihen von Plattenbauten der Sowjetera. Aber nicht nur visuell und architektonisch ist Kiew eine Stadt der Widersprüche.
Für die Fußball EM in diesem Sommer sei hier alles einmal komplett abgerissen und neu aufgebaut worden, sagen böse Zungen. Ganz stimmt das nicht, doch das Straßenbild hat sich verändert. Vieles scheint general-überholt worden zu sein und doch sitzen an auf den Bürgersteigen und an den Metro-Stationen die alten Frauen und verkaufen Gemüse aus dem eigenen kleinen Garten, selbst genähte Socken, und Hausrat, um ihre karge Rente aufzustocken. Doch auf den Straßen ziehen die großen Limousinen vorbei, deren Eigentümer sich im grünen Norden der Stadt neue Villen errichtet haben. Die Hauptstadt der Ukraine will sich entwickeln und vergisst doch dabei auch ein Teil seiner Geschichte. Für die Europameisterschaft wurde das Künstlerviertel, das „Montmatre Kiews“ am Andreewskij Spusk dem Erdboden gleich gemacht. Die Künstler, die hier gearbeitet und ausgestellt haben, sind verdrängt worden, das alte Kopfsteinpflaster ist Asphalt gewichen. Während einerseits abgerissen wird, um Immobilienprojekten Platz zu schaffen, entsteht andererseits mit großem Engagement eine Kunst- und Ausstellungsszene. Wiktor Pinchuk, Großoligarch, hat sich hier ein Kunstzentrum gebaut. Auf fünf Etagen werden im Pinchuk Art Center, zu dem der Eintritt frei ist, die unbestrittenen Topseller des Kunstmarktes präsentiert. Zugleich vergibt des Pinchuk Art Center aber auch einen Future Generation Kunstpreis, der es jungen Künstlern ermöglicht, ihre Karriere voran zu bringen und sich auch international bekannt zu machen. Mentoren für die Preisträger sind niemand Geringeres als Damien Hirst, Jeff Koons, Andreas Gursky und der Takashi Murakami – allesamt auch mit Werken in der Sammlung vertreten. Auf dem Dach des Ausstellungshauses findet sich ein Café mit Blick über die Dächer der Stadt, minimalistisch ganz in Weiß gehalten. Ein guter Punkt um auszuruhen und die Stadt auf sich wirken zu lassen.
Die Ambitionen sind hoch gesteckt, was die Kunst betrifft. In diesem Sommer fand erstmalig die Kiew Biennale statt. Logistisch und organisatorisch in den Kinderschuhen steckend, war sie doch Ausdruck einer aufstrebenden, ambitionierten Kulturagenda für die Stadt. Unverkennbar war die Anlehnung an die Mutter aller Biennalen – an Venedig. Auch in Kiew hatte man ein Arsenale eingerichtet, um zahlreiche Werke einheimischer wie internationaler Künstler zu präsentieren. Bei allem Engagement, das der zeitgenössischen Kunst entgegen gebracht wird, ist es doch vor allem das historische Erbe, für das die Stadt bekannt ist. Neben seinen zahlreichen Kirchen und Klöstern sind es vor allem die Theater und die Nationaloper, für die die Stadt berühmt ist und die sie architektonisch definiert. Vor allem aber, ist man stolz auf dieses Erbe und präsentiert es voller Selbstbewusstsein. Eine ganz andere Art von Selbstbewusstsein pflegt die Kiewer Oberschicht. Um ihren unstillbaren Durst nach Luxus und Unterhaltung zu stillen, schießen in der ukrainischen Hauptstadt Kaufhäuser, Shoppingmalls, Clubs und Gourmet-Restaurants wie Pilze aus dem Boden. Vieles davon ist kurzlebig. Bekannte Anlaufpunkte wie das 112 und das River Palace haben schon wieder geschlossen. Die Konkurrenz ist groß. Und den Clubs folgen in kürzester Zeit neue Etablissements – immer größer, eindrucksvoller, luxuriöser. Im Crystall Hall, im Sorry Babuschka oder im Dlux Club trifft sich die junge Kiewer Oberschicht und tanzt ausgelassen bis in die frühen Morgenstunden. Dann geht es – zuweilen auch mit gekauftem Blaulicht als Begleitschutz – nach Hause.
Kiew ist komprimiert. Dicht an dicht prallen hier soziale Welten aneinander. Wem es vergönnt ist, der ruht im Fairmont Grand Hotel aus – eine Oase des Luxus und Genusses, in dem das Grandeur vergangener Wochen wieder belebt wurde. Erbaut von einem russischen Oligarchen im klassizistischen Stil der späten Romanows ist es ein ungewöhnlicher Anblick vor allem deswegen, weil die Stadt sonst keine Paläste und Prunkschlösser aufzuweisen hat. Eine Tatsache, die auch der wechselhaften Geschichte, den politischen Abhängigkeiten und Unterwerfungen geschuldet ist. Wer es sich leisten kann, geht im Fairmont speisen. Das Restaurant bietet gehobene Lifestyle-Cuisine. Wer es jedoch rustikaler mag und die landestypischen Gerichte bevorzugt, ist anderorts besser aufgehoben. Da empfiehlt sich Borschtsch, eine Suppe, die mit Rote Beete zubereitet und häufig als Vorspeise serviert wird, oder ein „Kiewer Kotelett“. Für die kleine Mahlzeit zwischendurch ist Salo zu empfehlen, ein etwa einjährig gereifter Speck, zu dem man Schwarzbrot ißt. Oder Wareniki, Teigtaschen gefüllt mit Kartoffelbrei, Sauerkraut, Frischkäse oder Pilzen. Dazu trinkt man den Brottrunk Kwas oder den Beerensaft Mors, aber auch die lokalen Biere Obolon und Slavutitsch sind gut gebraute Durstlöscher. Einige Lokale, wie das Opanas, habe sich dieser Küche in folkloristischer Manier angenommen und ihr Interieur übervoll mit landestypischer Tracht und Handwerkskunst ausstaffiert.
Das eigentliche Leben der Stadt, so scheint es, findet jedoch am Wochenende statt, wenn die Einwohner die Straßen einnehmen. Jeden Sonntag wird der Prachtboulevard Kiewvs, die Khreschatyk in der Oberstadt, für den Verkehr gesperrt. Dann flaniert hier Jung und Alt, es gilt das alte Motto „sehen und gesehen werden“. Wer es sich leisten kann, kauft hier ein. Alle gängigen Luxuslabels haben hier ihre Filialen eingerichtet.
Weniger dem Nachtleben und der Unterhaltung fröhnend ist das Publikum im Botanischen Garten der Stadt. Hier kommt man zum Ausruhen und Ausatmen her. In unmittelbarer Nähe zum zum Garten liegt das berühmte Höhlenkloster Lawra.
Pilgerstätte vieler Gläubiger aus dem ganzen Land, wohnten hier einst mehrere tausend Mönche. Unter Stalin geflohen oder hingerichtet, sind es heute wieder knapp einhundertfünfzig. Voller Autorität weisen sie den nicht abreißenden Strom der Pilger und Besucher an. Hier sind es vor allem die Mütter und Alten, die zum Gebet kommen. Hin und wieder trifft man allerdings auch auf junge Ukrainerinnen auf halsbrecherisch hohen Absätze, Frauen in Leinenkleidern, die auf ein alternatives Lebensmodell schließen lassen, und schlichte Eleganz bekannter Modelabels. Beim Flaneur zeigt sich wieder einmal überdeutlich die Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit, aber auch Zerrissenheit dieses Landes, das sich seiner kulturellen Erbens bewusst ist, sich doch zugleich schwer tut mit dem Vollzug eines sozialen und demokratischen Aufbruchs.
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